Der Rote Mann von Läusern – Eine Weihnachtsgeschichte
Das Dorf Läusern lag wie ein vergessenes Juwel in der tief verschneiten Talmulde. Hoch über den Giebeln der Häuser thronte die alte, verlassene Burg Läusern.
Sie war seit Generationen ein Ort, den man nach Einbruch der Dunkelheit mied, denn die Alten sagten, dort wohnten die Kälte, der Verfall und – schlimmer noch – die Geister.
Es war Heiligabend. Die ersten Sterne funkelten bereits über dem Kamm, als die Stille, die den Schnee nur leiser rieseln ließ, von einem Geräusch zerrissen wurde.
Im Dorfe, tief unten im Tale, plötzlich ein ohrenbetäubender Knall! Er kam aus der Richtung des Bergfrieds der Burg.
Die wenigen Menschen, die noch in ihren Stuben saßen, sprangen auf. Die Tische wurden umgestoßen, Kinder begannen zu weinen. Sie rannten aus den Türen, in ihren einfachen Nachtgewändern, mit zitternden Händen.
Der Schock wuchs, als sie sahen, was geschehen war. Aus dem höchsten Turm der Burg, dem sogenannten Geisterturm, stieg eine dicke, schwarze Rauchwolke empor. Sie kroch wie eine böse Schlange in den kalten, klaren Himmel.
Sogleich eilte Herr Grimmelshausen, der Amtmann des Dorfes, aus seinem Haus. Er trug seine funkelnagelneue, strenge Uniform, frisch geputzt. Mit einem entschlossenen Blick auf das Chaos läutete er mit seiner Amtsschelle und wies mit dem Befehlshaberstock auf den Ort des Geschehens: den alten Turm.
“Zurück! Haltet Abstand!”, rief er, aber seine Stimme überschlug sich vor lauter Angst.
Der Anblick des schwarzen Rauches, der sich wie ein Leichentuch über den Schnee legte, ließ die Leute laut aufschreien: “Oh weh! Das sind die Geister! Die Hölle bricht über Läusern herein!”
Und wie um ihre Angst zu bestätigen, erklang aus der Ferne, aus dem Turm selbst, ein seltsamer, vielstimmiger Chor. Er war nicht himmlisch, sondern tief und dröhnend, unheimlich und bedrohlich.
Plötzlich erscheint ein roter Mann. Die Menschen starrten gebannt auf den Bergfried. Es schien, als würde sich das Tor des Turmes in einem weißen Nebel auflösen. Dann, mitten in dieser kalten, bösen Stille, ertönten Posaunen. Sie klangen gar nicht feierlich, sondern wie ein letztes Gericht.
Da stieg er aus dem Rauch und dem Nebel. Ein Mann. Groß, kräftig, eingehüllt in ein leuchtend rotes Gewand. Er hatte einen vollen, weißen Bart, der wie frischer Schnee aussah, und trug einen schweren Sack über der Schulter.
Der Amtmann Grimmelshausen fiel vor Schreck fast in den Schnee. Die Dorfbewohner, schon halb erstarrt vor Angst, wurden nun von einem neuen, unbezwingbaren Schrecken gepackt. Ein Dämon? Ein feuriger Häscher? Sie versuchten, sich hinter Holzhaufen und unter Planen zu verstecken.
Doch der große, rote Mann sah sie. Er sah ihre Angst, ihre Verzweiflung an diesem Heiligen Abend. Er setzte seinen Sack ab, legte die Hände in die Seiten und begann, laut und herzlich zu lachen.
Hohoho, ihr Leute, alle hier im Lande!
Sein Lachen hallte über den Schnee, warm und tief. Es war ein Lachen, das die Furcht vertrieb.
Was treibt die Angst euch so ins Gesicht? Ich bringe euch Kunde im roten Gewande! Die Zeit ist noch nicht gekommen, für das Jüngste Gericht!”
Der rote Mann winkte ihnen zu, und seine Augen funkelten gütig. Der Knall, den ihr hörtet, war kein Spuk! Der Turm dort oben… nun, er ist alt und marode. Ein kleiner Schornstein ist eingebrochen, als ich meinen großen Sack dort abstellte, weil ich mich ausruhen wollte. Und der Chor? Das sind nur meine Engelshelfer, die ihre Instrumente für heute Abend stimmen!”
Und so erzählte er, nicht von Strafe oder Geistern, sondern von der großen Geschichte. Von dem Kind in der Krippe, dem Christkind und Engeln mit dem güldenen Haar, das in diese dunkle Welt gekommen war, um Freude und Licht zu bringen. Er erzählte, wie die Engel gesungen und die Hirten gestaunt hatten.
Die Dorfbewohner kamen langsam aus ihren Verstecken hervor. Sie staunten. Die Angst wich einem warmen Schimmer, der ihre Gesichter erhellte. Sie standen im Licht der Wahrheit, die dieser freundliche, bärtige Mann ihnen brachte. Es war mittlerweile tiefe Nacht, doch die Dunkelheit hatte plötzlich ihren Schrecken verloren.
Der rote Mann ging fort, nicht bevor er dem Amtmann Grimmelshausen einen freundschaftlichen Schlag auf die Schulter gegeben und jedem Kind eine kleine Süßigkeit aus seinem Sack geschenkt hatte.
Seit dieser Nacht in Läusern wussten die Menschen: Das Böse ist oft nur ein eingebrochener Schornstein, und wahre Macht liegt nicht im Schrecken, sondern in der Güte.
Deshalb brennen zu Weihnachten Lichter in den Häusern in Läusern. Sie brennen, um das Licht des Christkinds zu ehren und um sich daran zu erinnern, dass, wenn Posaunen erklingen und ein großer Mann im roten Gewand erscheint, er nicht Gericht, sondern nur Freude und Segen bringen will. Und so feiert man, singt und lauscht dem Engelschor, der nun nicht mehr unheimlich, sondern lieblich aus der Kirche erklingt.
Anbei das Gedicht von 2013: https://www.vachroi-variable.de/weihnachten-in-laeusern-2/
Thomas de Vachroi




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