Virtuelles Kennenlernen!
Nachdem nun der eigene Steckbrief im virtuellen Netz verfügbar ist, begebe ich mich auf die Jagd nach dem bestmöglichen Partner. Zuerst bestimme ich die Parameter, die aus der Masse der Profile den passenden Menschen herausfiltern.
Begegne ich auf die übliche Art und Weise einem Menschen – auf einer Party etwa oder beim Sport – sind es eher unbewusste Filterfunktionen, die mir im Bruchteil einer Sekunde sagen, ob mich der Andere anspricht oder nicht – der so genannte erste Eindruck gibt den Ausschlag.
Die virtuelle Begegnung wird hingegen bewusst gefiltert und planmäßig angelegt. Dem Zufall und der Intuition bleibt somit wenig Raum. Der „passende“ Partner wird durch ein genau festgelegtes Raster aus der Menge aller verfügbaren Partner herausgefiltert.
Diesen Filter kann man sich wie einen Türsteher vorstellen, den man am Eingang seines Lieblingscafés postiert, mit der Anweisung, nur diejenigen hereinzulassen, die gewissen Kriterien entsprechen. Ein Traum, könnte man meinen, denn plötzlich wäre ich zum Beispiel nur von blonden, sportlichen Männern umgeben, von denen ich weiß, dass sie nicht rauchen, die Heirat gutheißen etc. Wo liegt der Haken?
Die möglichen Partner, die in meinem Kategoriensieb hängen geblieben sind, haben mich nach demselben Filtersystem gefunden. Mein Profil entspricht dem Bild, das der Andere nach seinen Kriterien als Ideal für sich entworfen hat. Wenn nun auch unsere Fotos jeweils den Erwartungen des Anderen entsprechen, dann kann dem perfekten Glück nichts mehr im Wege stehen. Oder?
Es ist aber genau diese Perfektion, die die wahre Begegnung mit dem Anderen unmöglich macht. Denn was ich in den Auswahlkriterien meines Suchfilters erkenne, ist nur meine Vorstellung des idealen Partners. Dasselbe gilt natürlich für den Anderen, der mich fand. Jeder sieht im Anderen nur seine eigenen Wünsche.
Doch eine Begegnung mit einem anderen Menschen findet eigentlich erst dann statt, wenn diese nicht das Ergebnis eines Plans ist. Wenn ich von meinem Gegenüber nicht erwarte, dass er meine Erwartungen zu bestätigen hat. Hinzu kommt, dass die virtuelle Begegnung ausschließlich über Sprache geschieht, und die ist nicht unmittelbar. Gestik, Mimik sowie die Lebenswelt des Anderen bleiben ausgeblendet.
Treffe ich nach endlosem Chatten und Mailen den wirklichen Menschen in einem Café, dann ist der unbekannte Andere eben nicht mehr unbekannt. Ich habe ein gewisses Bild von ihm, das aus der Deutung seiner Worte entstanden ist und natürlich aus meinen Erwartungen, die ich an meinen Filter gestellt habe.
Revidiere ich nicht meine Vorstellungen, wenn ich dem virtuellen Anderen gegenübersitze? Ja, es gibt eine Revision, aber mit umgekehrtem Vorzeichen. Nicht das unmittelbare Gefühl hat den Kontakt zum Anderen hergestellt, das ich nach und nach ergänze und korrigiere aufgrund der Informationen, die ich erhalte.
Der Andere ist zuerst ein sprachliches Gebilde, vom dem ich gewisse Vorstellungen habe und dann erst der Mensch, der vor mir sitzt. Diese zeitliche Ordnung hat zur Folge, dass ich in der wirklichen Begegnung versuche, die bereits gemachten Vorstellungen zu bestätigen und gegebenenfalls auch zu verteidigen, selbst wenn der wirklich gewordene Andere keine meiner Erwartungen erfüllt. Schnell stellt sich ein Gefühl ein: Enttäuschung.
Ich setze nicht meine eigenen Vorstellungen und Erwartungen auf die Anklagebank, sondern den Anderen, der es nicht geschafft hat, meinem Ideal zu entsprechen. Dabei müsste die Enttäuschung in Wirklichkeit auch meine Ideale in Frage stellen.
Doch im Zeitalter der „Online-Liebe“ wird dem „Ich“ die Wahl leicht gemacht: Wenn der Andere mich enttäuscht, so formuliert der egozentrische Mensch, dann ist er nicht für mich. Die Liste der Kandidaten im virtuellen Netz ist lang, es warten schon andere, die man kennen lernen kann. Warum sich also mit dem einen aufhalten, der meine Erwartungen nicht erfüllt?
Gerade aber in der Enttäuschung läge die Möglichkeit, dem Anderen wirklich zu begegnen. Auf den Trümmern der Idealvorstellungen könnte etwas wachsen, was man suchte, bevor man sich an den Computer setzt, um sein Suchprofil neu zu definieren.
Na dann auf zu neuen Ufern in der so wundervollen virtuellen Welt mit nicht realen Vorstellungen und überzogenen Erwartungen. Kennenlernen war früher anders!
red. Vachroi-VariAble