Bin ich arm?
Mit 16 Jahren angefangen zu arbeiten und das bis zum 65. Lebensjahr. Während der Zeit und neben der Lehre 6 Jahre Hochschulstudium absolviert und 2 Kinder großgezogen
Bin ich arm?!?
Seit nunmehr fast 11 Jahren beziehe ich meine Altersrente.
Ich lebe seit vielen Jahren allein, die Kinder sind aus dem Haus und kämpfen fleißig und redlich tagtäglich für ihre gesicherte Existenz.
Vor ca. 4 Jahren habe ich einem Hundetier bei mir ein neues Zuhause gegeben, nachdem es vorher in sehr fragwürdigen Verhältnissen leben musste.
Weit über die Hälfte meiner Rente geht mittlerweile monatlich an die Wohnungsgenossenschaft für die Miete meiner Wohnung. Die hohen Energie -und Lebensmittelkosten rauben mir den Schlaf und meinen Lebensmut. Hier am Stadtrand von Berlin lebe ich nun schon über 20 Jahre und muss in diesem Zusammenhang feststellen, dass der Mietpreis auch hier in all den Jahren kontinuierlich gestiegen ist.
Versicherungen habe ich nur die, die ich auf jeden Fall haben muss, alles andere hatte ich mit dem Eintritt ins Rentenalter bereits gekündigt.
Wenn ich dann noch die Kosten für Wasser, Strom, Heizung, Telefon – bei alledem bin ich sehr sparsam – in Betracht ziehe, bleibt letztendlich keine vielversprechende Summe für ein überschwängliches Leben!
Geschenke für Kinder und Enkel müssen schon lange unterbleiben bzw. beschränken sich auf absolute Kleinigkeiten und nicht zuletzt verbinden sich auch gesundheitliche Belange zunehmend und immer wieder mit finanziellen Aufregungen!
Das Armutsrisiko in der Hauptstadt ist rapide gestiegen.
Ein neuer Zahnersatz musste meinerseits abgelehnt werden – der billigste kostet bereits 700,- Euro! Bei der Bezahlung einer notwendig gewordenen neuen Brille half die Tochter!
Zudem sind da auch die täglich erforderlichen Medikamente, die immer wieder neu beschafft und bezahlt werden müssen und ab und an eine physiotherapeutische Behandlung – wöchentlich wird das unterm Strich auch zu teuer – empfinde ich schon fast als eine Auszeichnung!
Gewiss, ich muss nicht hungern – die billigen Lebensmittel tun es auch – aber es müssen auch von Zeit zu Zeit mal neue Kleidungsstücke und neue Schuhe her! Dann wird es schon kritisch, denn nur allzu schnell ist man im Dispo und hat dann arg zu tun, um das wieder auf den Punkt zu bringen.
So gesehen ist es schon ein wahres Glücksgefühl und ich will es nicht beschreien, wenn die Großgeräte, wie Kühlschrank, Waschmaschine und Fernseher bis zum Ende des Lebens durchhalten!
Durch das Verlassensein kommt es zur Isolation und nicht selten zu schweren körperlichen und seelischen Erkrankungen.
Andererseits vermisse ich viele Dinge und Momente, die doch irgendwie das Leben lebenswert machen! Die nette Runde in einer gemütlichen Gaststätte, Theater- oder Konzertbesuche oder auch eine schöne Reise gehören schon lange, lange der Vergangenheit an!
Vor zwei Tagen sprach mich eine Mieterin aus dem Nebenhaus an und schlug mir vor, am Nachmittag mit ihr zum Kaffeetrinken eine hübsche Gaststätte aufzusuchen. Für mich ein sehr verlockendes Angebot – aber ich habe abgelehnt! In diesem Monat ist noch der Tierarztbesuch mit der Jahresuntersuchung und Jahresimpfung fällig und das kostet auch nicht wenig! Auf das Tier kann und will ich nicht verzichten. Es ist mein einziger sozialer Halt.
So holt letztendlich das reale Leben jede Träumerei wieder ein!
Doch habe ich dafür wirklich all die Jahre gelernt und studiert?!
Habe ich immer und an jedem Platz mit Verantwortung und persönlicher Hingabe gearbeitet, um jetzt und heute längere Fahrten mit den öffentlichen Verkehrsmitteln – das Auto habe ich beizeiten abgeschafft – vermeide, damit ich nur den Fahrpreis für eine Kurzstrecke entrichten muss?! Bei solchen Dingen beginnt schon das Rechnen!
Umso größer ist dann die Überraschung und Freude, wenn mich nahestehende Freunde mit den herrlichsten Lebensmitteln und feinen Getränken beschenken! Vor Freude fast fassungslos und dankbar berührt ist es dann, als wenn Ostern und Weihnachten auf einen Tag fällt! Man möchte vor Begeisterung die Welt umarmen und weiß doch Menschen um sich herum, denen es noch viel, viel schlechter geht!
Ich denke an den alten Herrn mit den schlohweißen Haaren, der stark gehbehindert ist und sich selbst mit seinem Rollator nur beschwerlich fortbewegen kann.
Unermüdlich ist er unterwegs – ich half ihm, als er ein ausgesondertes und am Müllplatz abgestelltes Regalteil in seine Wohnung transportieren wollte. Gemeinsam haben wir es geschafft!
Ich denke an die ältere und chronisch kranke Frau, die in einem sehr großen Teil des Wohngebietes die Briefkästen mit Werbematerial bestückt. Schon allein den Wagen mit dem Werbematerial schieben zu müssen, ist eine kraftzehrende Mammutaufgabe!
Und da sind auch die Frauen und Männer, die Flaschen sammeln. Bei jedem Wetter laufen sie getreulich ihre Tour, um die Finanzen ein klein wenig aufzubessern! Frau Blankenburg zum Beispiel begrüßte mich heute am frühen Morgen mit ihrem Hund und zwei schweren Beuteln und teilte mir freudestrahlend mit, dass sie jetzt auch noch unterwegs Altpapier sammelt!
Ca.19 Millionen Deutsche sind von Armut und Ausgrenzung bedroht.
Ich habe durch die Gassirunden mit meinem Hund viele Menschenschicksale kennengelernt – ältere Menschen, die sehr oft von der Angst getrieben sind, dass sie die Miete und Energiekosten für ihre Wohnung nicht mehr aufbringen können! Aber auch der Krieg zwischen Russland und der Ukraine belastet die Menschen um mich herum enorm und die älteren haben Angst um ihre Kinder/Enkelkinder und Verwandten. Was kommt auf die nach uns nachfolgenden Generationen noch zu? Das Leben ist kaum noch bezahlbar und nun noch die Kriegsangst.
Uns Rentnerinnen und Rentner überschüttet man mit Häme und allerlei Beleidigungen von Seiten der jüngeren Generationen. Das die Politik so etwas zulässt, macht mich fassungslos.
Alles in allem ist dieser allerletzte Lebensabschnitt wahrlich eine Herausforderung in jeder Hinsicht! Es bedarf schon einer gehörigen Portion an Lebensmut und Lebensoptimismus, das Schöne der Tage noch zu sehen und nicht an den Gegebenheiten zu verzweifeln, zu zerbrechen und in einem dunklen Nichts zu stranden!
Meinen Lebensabend hatte ich mir anders vorgestellt.
Anmerkung: Frau K. verstarb im Jahre 2023.
Das Interview führte Thomas de Vachroi
Seit 01.März 2024 Armutsbeauftragter der evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg schlesische Oberlausitz (EKBO)
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