REFORMATION – MIT LUTHER GEGEN POPULISTEN
Mit Luther gegen Populisten
500 Jahre Reformation bedeuten 500 Jahre Veränderung, Bewegung und Dialog. Daraus lässt sich auch für die Probleme von heute vieles lernen.
Von Joachim Zirkler
Martin Luther – hier sein Denkmal in Wittenberg – wurde als Bismarck-Freund, als Nazi, als Sozialist gedeutet. Dabei heißt seine Botschaft: Alle Menschen sind wichtig.
Joachim Zirkler, geboren 1955 in Dresden, studierte Evangelische Theologie in Berlin und Leipzig. 1984 reiste er aus der DDR aus, war Gemeindepastor in Laatzen und schließlich von 2002 bis 2013 Pfarrer an der Kreuzkirche Dresden. Seit 2014 ist Zirkler, der in Dresden und Wittenberg lebt, Studienleiter am Zentrum des Lutherischen Weltbundes in Wittenberg.
Mit Martin Luthers Thesen begann die Zeit, die wir heute Reformationszeit nennen. Sie hat Türen geöffnet. Die Tür zur Freiheit des Individuums, die Tür zur Selbstbestimmung des Menschen und die Tür zur Bildung für alle. Wenn wir im kommenden Jahr das 500-jährige Jubiläum der Reformation begehen, sollten wir uns fragen, wie wir es angemessen tun.
Im Lauf der Zeit wurde Luther immer wieder von den verschiedensten Seiten vereinnahmt. 1883, als sein 400. Geburtstag begangen wurde, sah man ihn in einer Linie mit Bismarck. 1933 wurde er von der Nazi-Organisation Deutsche Christen als Vorläufer Adolf Hitlers reklamiert, die Bekennende Kirche hingegen sah in ihm das Vorbild des Widerstandes. Luthers 500. Geburtstag wurde 1983 zur Zeit der deutschen Teilung begangen. Erich Honecker, der Vorsitzende des Staatlichen Lutherkomitees der DDR, stilisierte ihn zum Frührevolutionär und Wegbereiter des Sozialismus. In der Bundesrepublik wurde sein Beitrag zur Freiheit des Individuums gerühmt. Diesmal darf es nicht um Vereinnahmung gehen, sondern um Impulse für unsere Gesellschaft. Luther hat von „semper reformanda“ gesprochen – Reformation bedeutet dauernde Veränderung. Das heißt Bewegung und nicht Stillstand, Aufbruch statt Verkrustung!
Heute leben wir wieder in einer Umbruchszeit. Die Welt ist kleiner geworden. Konflikte in anderen Regionen betreffen uns. Netzwerke waren noch vor wenigen Jahren unbekannt. Informationen verbreiten sich in rasanter Geschwindigkeit um den Erdball. Die Weltbevölkerung ist auf ein Rekordniveau angewachsen, der Unterschied zwischen armen und reichen Ländern wird größer. Der Islamismus verunsichert Europa und Amerika. Die Gesellschaft spaltet sich zusehends. Populisten erhalten Zulauf.
In dieser Situation braucht es Zeichen der Gemeinsamkeit, gerade auch von den Kirchen. Bei den bisherigen Jubiläen wurde das Trennende zwischen katholischer und evangelischer Kirche betont. Jetzt ist es an der Zeit, das Verbindende in den Vordergrund zu stellen. In einer immer mehr säkularisierten Gesellschaft ist das gemeinsame Zeugnis der Christen wichtig und nicht das Betonen der konfessionellen Unterschiede. Das wurde deutlich erkennbar, als das Jubiläumsjahr am 31. Oktober 2016 ökumenisch eröffnet wurde. Im schwedischen Lund kamen die führenden Persönlichkeiten des Lutherischen Weltbundes mit Papst Franziskus zusammen, um gemeinsam einen Gottesdienst zu feiern. Das wäre vor wenigen Jahren noch nicht denkbar gewesen und lässt für die Zukunft hoffen. Der Luthergarten in Wittenberg – ein Projekt des Lutherischen Weltbundes – ist ein lebendiges Zeichen der Ökumene. 500 Bäume stehen für 500 Jahre Reformation. Sie werden von Kirchen, Diözesen und Gemeinden adoptiert. Alle großen Konfessionen sind bereits vertreten. Im März 2017 wird die lutherische Dresdner Kreuzkirchgemeinde zusammen mit ihrer reformierten Partnergemeinde aus Rotterdam gemeinsam einen Baum adoptieren. Reformation heißt ökumenisch sein.
Ende Oktober 2016 trafen sich Mitglieder des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland und der Deutschen Bischofskonferenz in Jerusalem mit Vertretern der jüdischen und der islamischen Religion. Nach der leidvollen Geschichte zwischen Christen, Juden und Muslimen ist auch das ein wichtiges Zeichen. Das Verhältnis zwischen Christen und Juden muss eine Rolle spielen im kommenden Jahr. Genauso ist es nötig, den Dialog mit dem Islam zu suchen. Fünf Millionen unserer Mitbürger gehören dieser Religion an, die nicht gleichzusetzen ist mit Islamismus. Das Jubiläum kann Gelegenheit bieten zu einem offenen und intensiven Austausch zwischen den Religionen. Reformation heißt, den Dialog mit anderen Religionen führen.
Im „Kernland der Reformation“ gehören 85 Prozent der Bevölkerung keiner Kirche mehr an. Wie kann mit ihnen über Reformation damals und heute ein Dialog geführt werden? Der verstorbene Propst Kasparick brachte es auf die Formel: Die Menschen im Wittenberger Land sind „Luther-besessen und Gott-vergessen“. Man ist stolz auf den großen Sohn der Stadt und des Landes, aber mit Kirche, Glauben und Gott hat man nichts zu tun. Man ist nicht gegen die Kirche, aber hat mit ihr keine Berührungspunkte. Die Feierlichkeiten bieten einen einmaligen Anlass, das Interesse für die Reformation zu wecken und zu zeigen, was Kirche heute für die Menschen bedeuten kann. Reformation heißt: Alle Menschen sind wichtig. Und jeder Mensch kann über seinen Glauben selbst bestimmen.
Wenn wir mit der Mehrheit der Menschen ins Gespräch kommen wollen, brauchen wir eine neue Sprache. Luther hat dem Volk aufs Maul geschaut, die Bibel ins Deutsche übersetzt und auf Deutsch statt auf Latein gepredigt. Inzwischen hat sich wieder eine Art neues „Kirchenlatein“ etabliert. Wenn eine Person der erwähnten 85 Prozent der Bevölkerung einen unserer traditionellen Gottesdienste besuchte, würde sie wahrscheinlich 85 Prozent nicht verstehen. Es ist eine kirchliche Binnensprache entstanden, die der Mehrheit fremd ist. Der Erfolg von Margot Käßmann bei ihren Predigten und Büchern hat auch etwas mit ihrer Sprache zu tun, die nicht kirchlich-akademisch abgehoben ist. Als sie vom Amt als Bischöfin und Ratsvorsitzende zurücktrat, sagte sie: „Ich kann nicht tiefer fallen als in Gottes Hand.“ Das war ein Ausdruck ihres Glaubens, den alle verstanden haben. Und viele Menschen wollten danach wissen, was es mit diesem Glauben auf sich hat.
In den Innenstädten sind viele Kirchen täglich geöffnet, und die Menschen nutzen die Möglichkeit, einfach da sein zu können und zu nichts genötigt zu werden. Diese Räume haben eine besondere Kraft. Sie bringen den Besuchern eine andere Wirklichkeit nahe. Der Schriftsteller Pascal Mercier sagt, er könne sich ein Leben ohne Kathedralen nicht vorstellen. Der Künstler Yadegar Asisi schafft mit seinen Panoramen neue Räume – moderne Kathedralen –, die Menschen ansprechen und faszinieren. Ganz gleich, ob das barocke oder das zerstörte Dresden, wenn Schulklassen eintreten, werden sie mit einem Mal still und lassen den Raum mit dem Bild auf sich wirken. Plötzlich sind sie mitten in der alten oder mitten in der zerstörten Stadt. Sie werden in eine andere Wirklichkeit versetzt. Das neue Panorama in Wittenberg zeigt auf einmalige Weise das mittelalterliche Leben in der Stadt zu Luthers Zeiten. Es wird zahlreiche Menschen ansprechen und Gelegenheit bieten, über den christlichen Glauben ins Gespräch zu kommen. Reformation heißt, Sprache und Räume für den Glauben finden.
Martin Luther und sein Mitstreiter Philipp Melanchthon wollten, dass alle Menschen Zugang zu Bildung erhalten und über ihren Glauben Auskunft geben können. Ihnen verdanken wir die allgemeine Schulpflicht, die alle Jungen und Mädchen, egal, aus welcher Schicht, einbezieht. Ihnen verdanken wir die Entstehung der Trias von Kirche, Pfarrhaus und Schule in den Dörfern und Städten des Landes. Insofern ist es beste Tradition, wenn wir für Bildung sorgen. Glauben heißt, Auskunft geben zu können „über die Hoffnung, die in uns ist“. Dazu gehören natürlich Fragen, und es gibt keine Fragen, die nicht erlaubt wären. Fundamentalisten und Populisten mögen Fragen nicht, Christen lieben Fragen! Reformation heißt: die Welt hinterfragen.
Christlicher Glaube ist politisch. Jesus kam in Konflikt mit den Herrschenden und wurde gekreuzigt. Luther widerstand dem Kaiser und vielen Fürsten auf dem Reichstag in Worms, was politische Folgen hatte. Im Blick auf die jüngste Vergangenheit schauen wir zurück auf die friedliche Revolution 1989. Sie begann in den Kirchen mit Gebeten. Die Worte der Bibel entfalteten eine Kraft, die Menschen beflügelte. Die Welt wurde verändert, weil die bestehenden Verhältnisse hinterfragt wurden. Reformation heißt: die Welt verändern.
red. Vachroi-VariAble
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