Schlafmangel = Konzentrationsprobleme
Schlafmangel ist ein Hauptgrund für Lern- und Konzentrationsprobleme
Christian Cajochen vom Zentrum für Chronobiologie in Basel plädiert für eine kürzere Mittagspause an den Schulen
Herr Cajochen, Schlafgewohnheiten und -bedürfnisse sind sehr unterschiedlich. Gilt aber nicht im Grundsatz, dass, wer abends früh ins Bett geht, am Morgen automatisch fitter ist?
Doch, dies setzt allerdings voraus, dass man abends innert nützlicher Frist einschlafen kann. Gerade dies ist bei den meisten Jugendlichen nicht der Fall. Sie können um 21 Uhr oder 22 Uhr nicht einschlafen, weil sich ihr biologischer Rhythmus in der Pubertät verschiebt und sich die Phasenlage ihrer «inneren Uhr» verspätet. Dies hat zur Folge, dass Jugendliche abends von einem starken Wachsignal profitieren, was anhand der Gehirnaktivität auch gemessen werden kann. Entsprechend spät finden die Jugendlichen den Schlaf. Müssen sie morgens um 5 Uhr 30 oder 6 Uhr aufstehen, um rechtzeitig in der Schule zu sein, befinden sie sich mitten in ihrer «biologischen Nacht.
Bildungsverantwortliche sehen das anders. Nicht das abendliche Wachsignal im jugendlichen Körper, sondern das Internet und verantwortungslose Eltern seien schuld daran, wenn Jugendliche am Morgen unausgeschlafen sind.
Computerspiele und allgemein der Gebrauch von Tablets bis spät in die Nacht sind tatsächlich ein Problem. Wer abends lange vor einem LED-Bildschirm sitzt, verzögert seinen Schlaf-Wach-Rhythmus. Das Dunkelhormon Melatonin, das die Schlafbereitschaft steigert, wird vor allem durch die starken Blauanteile des Lichts solcher Geräte unterdrückt und hindert den Körper, zur Ruhe zu kommen. Für die Verschiebung des Schlaf-Wach-Verhaltens können aber weder Jugendliche noch Eltern etwas dafür. Auch verantwortungsvoll agierende Mütter und Väter stellen fest, dass ihre Kinder oft bis Mitternacht wach im Bett liegen und am Morgen völlig erschöpft sind.
Sie sagen, bereits eine Verschiebung des Schulstarts um 20 Minuten würde sich positiv auf die Leistungsfähigkeit der Jugendlichen auswirken. Worauf stützt sich diese Erkenntnis?
Auf Studien aus den USA und vermehrt auch aus Europa. Eine neue Umfrage mit 2700 Jugendlichen, die von Basler Psychologen an Gymnasien durchgeführt wurde, zeigte die positive Wirkung einer längeren Schlafdauer. Die an der Studie beteiligten Schülerinnen und Schüler waren insgesamt motivierter und schrieben sogar bessere Noten. Die Unterschiede waren zwar gering, hätten sich aber bei längerer Studiendauer wahrscheinlich verdeutlicht.
Durch einen verzögerten morgendlichen Schulstart würde sich der Schulschluss nach hinten verschieben. Spätabends noch Hausaufgaben zu erledigen, ist auch nicht besonders kinderfreundlich.
Das ist richtig, deshalb plädiere ich für eine Verkürzung der Mittagszeit, die heute oft unvernünftig lange dauert, teilweise bis zu zwei Stunden. Abgesehen davon brächte ein späterer Start am Morgen auch verkehrstechnisch Vorteile. Heute haben wir die Rushhour zwischen halb sieben und halb acht Uhr. Der Berufs- und Schulverkehr findet zeitgleich statt, und das öffentliche Verkehrssystem ist überlastet. Würde die Schule um 8 Uhr 30 beginnen, käme es zu einer Entschärfung.
Bildungsverantwortliche sind sich bewusst, dass die Startzeiten an Schweizer Schulen tendenziell früh sind, begründen dies aber mit infrastrukturellen Engpässen und reich befrachteten Stundentafeln. Können Sie das nachvollziehen?
Für mich sind das teilweise auch Ausreden, weil man es einfach zu kompliziert oder zu mühsam findet, etwas zu verändern. Die Gymnasien der Stadt Bern beginnen mehrheitlich um 8 Uhr und haben in Sachen Infrastruktur keine komfortablere Ausgangslage als andere Regionen. Im Gymnasium Burgdorf startet der Unterricht seit 15 Jahren sogar erst um 8 Uhr 20, und der Schulbetrieb läuft ebenfalls störungsfrei. Schulschluss ist in Burgdorf um 16 Uhr herum, die Mittagspause ist flexibel. So gibt es keine überfüllte Mensa, und es stehen nicht alle zur gleichen Zeit fürs Essen Schlange. Die Abkehr von sehr frühen Schulstartzeiten ist also möglich, die Frage ist nur, ob man sie will.
Ist es nicht sinnvoll, wenn sich Jugendliche an die Qual des frühen Aufstehens gewöhnen? Im Berufsleben kann man ja auch nicht ausschlafen.
Um 6 Uhr aufzustehen, ist für einen Fabrikarbeiter oder Buschauffeur unabdingbar, aber nicht für einen 13-Jährigen, der mitten in der Pubertät ist. Viele Schweizer Schüler müssen früher aus dem Haus als ihre berufstätigen Eltern. Da müssen doch Bildungsverantwortlichen ein Fragezeichen setzen.
Die Chronobiologen werden offensichtlich nicht ganz ernst genommen.
Diesen Eindruck habe ich manchmal auch. Die Ignoranz ist umso schlimmer, als wir dank elektrophysiologischen Hirnstrommessungen über evidenzbasierte Erkenntnisse verfügen und erwiesen ist, dass Schlafmangel ein Hauptgrund für Lern- und Konzentrationsprobleme bei Jugendlichen ist. Die Tugend des frühen Aufstehens muss einen ostpreussischen Hintergrund haben. Abgesehen von der Schweiz kennen jedenfalls nur Deutschland und Polen diesen unangemessen frühen Schulstart. Im angelsächsischen Raum gilt das Zeitsystem «nine to five», und die Jugendlichen dort sind nicht weniger gebildet.
In Luzern müssen Kinder vereinzelt schon um 7 Uhr 35 in der Schule sein, um zu turnen. Kinder, sagen Sportforscher, brauchen nicht mehr Schlaf, sondern mehr Bewegung.
Zu Sport sage ich auch Ja, dies aber zur richtigen Zeit.
Interview: Sabine Windlin
Christian Cajochen ist Leiter der Abteilung Chronobiologie der Universitären Psychiatrischen Klinik Basel.
red. Vachroi-VariAble-Gesundheit 2013