Ist moralische Überlegenheit nur eine Flucht vor der eigenen Hilflosigkeit?
Ist moralische Überlegenheit nur eine Flucht vor der eigenen Hilflosigkeit?
In einer Zeit, in der soziale Medien und Nachrichtenkanäle uns minütlich mit globalen Krisen und Katastrophen konfrontieren, wird das private Wohnzimmer zum höchsten richterlichen Tribunal. Wir diskutieren leidenschaftlich über Kriege, Klimawandel und soziale Ungerechtigkeit – oft mit großer moralischer Überzeugung und angeblicher Überlegenheit. Doch gleichzeitig scheitern viele von uns daran, die eigenen alltäglichen Probleme wie Armut, Wohnungsnot, ja auch, persönliche Krisen allein zu bewältigen.
Dieses weltweite Phänomen wirft die Frage auf: Wie authentisch ist eigentlich unser moralischer Diskurs, wenn wir selbst in kleinen Dingen versagen und trotzdem leidenschaftlich über andere richten?
Durch Smartphones und soziale Medien sind wir ständig mit globalen Problemen konfrontiert. Das schafft eine Illusion von Mitbestimmung – wir teilen, kommentieren, verurteilen.
Gesellschaftliche Debatten werden oft zu interaktiven Akten. Wer angeblich „richtig“ urteilt, demonstriert Bildung und Mitgefühl – unabhängig davon, ob dieses Urteil reale Konsequenzen hat.
Wir verurteilen Politikerinnen und Politiker, Firmen, Menschen wie Du und ich, eigentlich alles, was nicht in unser Weltbild passt, während wir selbst im Alltag ständig moralische Kompromisse eingehen (Mülltrennung, Verkehr, Rücksichtslosigkeit, Konsumverhalten) uvm.
Wir fordern, von unserer geheiligten Couch aus globale Gerechtigkeit, können aber nicht einmal unsere eigene Lebenssituation nachhaltig gestalten (z. B. Verschuldung, ungesunder Lebensstil). Während wir über Flüchtlingspolitik debattieren, kämpfen wir selbst mit horrenden Mietpreisen sowie Lebenshaltungskosten oder prekären Jobs. Die eigene Ohnmacht wird verdrängt, indem wir uns in abstrakten Debatten als „gute Menschen“ inszenieren.
Keine ethischen und moralischen Grundsätze werden beachtet. Jeder wird zum virtuellen Feind erklärt der eine andere Meinung oder gar Ansicht hat. Es gibt Tausende von selbsternannten Experten, die ganz klar und ohne Rührung, oder Recherche, Menschen verurteilen die sie nicht einmal kennen!
Die Passivität im eigenen Leben – eine Instagram oder TikTok-Story für Klimagerechtigkeit posten, aber selbst keine nachhaltigen Konsumentscheidungen treffen.
Globale Probleme sind abstrakt, persönliche Probleme aber konkret. Es ist einfacher, über den Ukraine-Krieg zu reden, als die eigene Wohnungssuche zu bewältigen.
Indem wir uns als „komplett aufgeklärt“ und „empört“ präsentieren, glauben wir, bereits genug getan zu haben.
Es ist die fehlende Solidarität und Empathie im Kleinen: Wir erwarten sofortige Lösungen von Politik und Gesellschaft, ohne selbst im eigenen Umfeld aktiv zu werden (z. B. Nachbarschaftshilfe, lokales Engagement).
Die Fähigkeit, über globale Probleme zu diskutieren, ist ein Privileg – doch sie wird zur Farce, wenn wir dabei unsere eigene Handlungsunfähigkeit ignorieren. Echte Moral beginnt nicht auf der Couch, sondern im täglichen Leben: in der Art, wie wir mit unseren Mitmenschen umgehen, wie wir mit begrenzten Ressourcen haushalten und wie wir uns gegen Ungerechtigkeit einsetzen – nicht nur online, sondern auch im eigenen Umfeld. Vielleicht sollten wir weniger über die Welt urteilen und stattdessen erst einmal unser eigenes Leben in Ordnung bringen.
Sicher gibt es mittlerweile viele Menschen, die helfend eingreifen, aber auch diese Menschen werden leidenschaftlich virtuell bekämpft. Die Konsequenz ist, das eben viele sich auch zurückziehen, um dem Zorn der „liebenden“ Mitmenschen zu entgehen.
Eine durchaus fatale gesellschaftliche Entwicklung.
Meine Frage schließt an: Ist moralische Überlegenheit nur eine Flucht vor der eigenen Hilflosigkeit?
@TdV