Gesellschaftliche Mauern
Es lebten – ich weiß nicht in welchem Land,
zwei Barone, tadellos und wortgewandt.
Sie hatten beide nicht viel im Kopf
doch ihre Manieren waren „tip und top“.
Der eine war ein „von“, der andere ein „zu“.
Sie ignorierten in vornehmer Ruh,
der eine den anderen geflissentlich
denn jeder dünkte als der Bessere sich.
Sie wohnten beide in einem Haus
und schnitten sich jahrein und jahraus.
Sie kannten einander wohl bis aufs Hemd
doch äußerlich taten sie kühl und fremd.
Sie hatten soviel miteinander gemein-
doch keiner von beiden wollte zuvorkommend sein.
Einst trafen fern den Gesellschaftsmauern
die beiden sich mal – in den hohen Tauern.
Der Zufall fügte es, sie fielen zu zwei’n
in dieselbe Gletscherspalte hinein.
Sie schwiegen beharrlich korrekt auch dort
denn finden wollte keiner das erste Wort.
Sie froren und hungerten beide da,
nur Luft war jeder dem anderen ja.
Stumm schieden sie beide aus dieser Welt;
sie wurden einander nicht vorgestellt.
red. VariAble 2011